Der 20. Januar 1942 war ein herrlicher Berliner Wintertag, eiskalt und sonnenklar. Wer damals auf die Terrasse jener Villa trat, um einen grandiosen Blick auf den See zu erhaschen, hörte den Schnee unter den Stiefeln knirschen. Auch die Tagesordnung trübte die Stimmung nicht. Die Frage, wie sich elf Millionen Juden am effektivsten ermorden lassen, besprachen die 15 Männer bei Schnittchen und französischem Cognac.
So grotesk die Szenerie der Wannsee-Konferenz anmutet, so unfassbar ist bis heute der Holocaust geblieben. All die Distanz, das angehäufte Wissen, die vielen Regalmeter Forschungsliteratur: Sie machen das monströse Verbrechen kaum begreiflicher. Wer es ergründen will, stößt an die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Weil wir dazu neigen, die Dinge zu vereinfachen, um sie besser zu verstehen, galt die Villa am Wannsee lange Zeit als der schaurigpittoreske Ort, an dem der Holocaust beschlossen wurde. Was so grausam endete, musste einen eindeutigen Anfang haben. Inzwischen hat die Forschung gezeigt: Am Wannsee wurde der Mord an den Juden organisiert und koordiniert, aber in Gang gekommen war er längst. Und es ist fraglich, ob es überhaupt den einen Beschluss gab, sämtliche Juden zu töten. Oder ob sich der Völkermord nicht eher in Etappen vollzog, vorangetrieben durch eine Kette immer radikalerer Einzelentscheidungen, die sich erst im Rückblick zu einem Gesamtvorgang zusammenfügen.
Zum 75. Jahrestag der Wannsee-Konferenz stellt dieses Heft die Frage, wie die Teilnehmer so weit kamen, eine achtstellige Mordziffer abzunicken, als ginge es um Planzahlen für die Rüstungsindustrie. Wie wurde aus der Vertreibung der Drang zur Vernichtung?
Im Mittelpunkt stehen die Jahre 1939 bis 1942, die Inkubationszeit des Holocaust. Die Autoren sind sich einig, dass in dieser Phase die Weichen gestellt wurden. Wie und wann genau, darüber gehen die Meinungen aus ein an der: War die Ermordung der europäischen Juden im Winter 1941 beschlossene Sache – oder doch erst im Frühsommer 1942? Wurde am Wannsee der Mord in den Gaskammern besprochen, oder dominierte das Kalkül der »Vernichtung durch Arbeit«? Die Genese des Genozids nicht nur von einem Standpunkt aus, sondern mit all ihren Kontroversen und offenen Fragen zu beleuchten ist das Anliegen dieses Heftes. Der Holocaust war die zivilisatorische Bruchkante des 20. Jahrhunderts. So entfesselt, so grenzenlos und so entsetzlich effizient wurde weder vorher noch nachher in der Geschichte gemordet. Aber bedeutet Beispiellosigkeit, dass das Kapitel abgeschlossen ist? Die Tat war exzeptionell, doch die Täter waren es mitnichten. Sie offenbarten, wozu Menschen fähig sind, wenn sie die Lizenz zum Töten erhalten. Schon deshalb werden wir auf die Frage, wie es zum Holocaust kommen konnte, keine abschließende Antwort finden – sondern nur neue Fragen.
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Weitere Themen im Heft:
- Zeugnisse des Grauens Aktenvermerke, Briefe, Protokolle: Wie NS-Funktionäre den Massenmord vorantreiben.
- Tod auf Rädern. Mit dem Einsatz von Gaswagen beginnt das planvolle Massentöten.
- Die Männer vom Wannsee, gebildet, ehrgeizig und erfolgreich. Ein Gruppenporträt der 15 Konferenzteilnehmer.