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Deutschland, deine Kanzler

Als sich Angela Merkel 2005 im Kanzleramt einrichtete, zog Konrad Adenauer mit ein. Auf dem Porträt von Oskar Kokoschka wacht der Alte aus Rhöndorf hinter ihrem Schreibtisch und faltet die Hände so ähnlich, wie Merkel es gern tut. Das Bild vermittelt Kontinuität, bundesrepublikanische Tradition. Mehr noch: Der Gründungskanzler von 1949 hat Bismarck noch erlebt, er hat in der Weimarer Republik Karriere gemacht, saß im Nationalsozialismus im Gefängnis: Adenauer hat etwas Überzeitliches, alle Epochen der deutschen Kanzlergeschichte sind in ihm vereint. Zum Ende der Ära Merkel erzählt unser Heft diese Kanzlergeschichte, die 1871 mit Bismarck und der Gründung des Deutschen Reiches begann: 150 Jahre, in denen 29 Regierungschefs – zu höchst unterschiedlichen Konditionen – Verantwortung für die deutsche Politik trugen. In der Galerie der Kanzler (als Poster in diesem Heft) begegnen uns Monarchisten und Demokraten, Sozialisten und Vernunftrepublikaner, Generale und ein Diktator. Viele Namen hat die Geschichte verweht: Wer kennt noch Leo von Caprivi, der nach Bismarcks Feldzug gegen Sozialdemokraten und Katholiken wieder auf Versöhnungskurs ging? Oder Wilhelm Marx, der 1924 den Abzug der Franzosen aus dem Ruhrgebiet erreichte und die Folgen der Hyperinflation überwand? Die Geschichte Deutschlands in Gestalt der Kanzler zu erzählen heißt nicht, dem preußischen Hofhistoriker Heinrich von Treitschke das Wort zu reden: Sein berüchtigtes Diktum von den »Männern«, die »Geschichte machen«, wird in diesem Heft vielfach widerlegt. Stets blieben die Kanzler Kinder ihrer Zeit, oft waren sie Spielball der Umstände. Selbst »Macher« wie Helmut Schmidt wurden geprägt von den Krisen, die sie zu bewältigen hatten – und Bismarck war keineswegs der »Schmied der Einheit«. Außerdem haben nicht nur Männer Kanzlergeschichte geschrieben: Beinahe 16 Jahre hat Angela Merkel das Land regiert, länger als Adenauer, fast so lange wie Kohl und nur etwas weniger ausdauernd als Rekordhalter Bismarck mit mehr als 19 Jahren. Für ein historisches Urteil über Merkels Kanzlerschaft ist es zu früh, doch schon jetzt steht fest: Das Ende markiert eine Zäsur. Und eines ist einzigartig an diesem Ende, eine Premiere in Treitschkes Universum männlicher Ruhmestaten: So selbstbestimmt und überwiegend freiwillig, wie Angela Merkel aus dem Amt scheidet, hat dies keiner ihrer 28 Vorgänger geschafft.

 

Themen im Heft:

  • Ein deutsches Amt. Vom Reich zur Republik: Ein Streifzug durch 150 Jahre Kanzlergeschichte
  • Kanzleramt als Schleudersitz. Die Weimarer Regierungschefs sind meist vergessen – zu Unrecht
  • Der Untergang Weimars. Hitlers Weg an die Macht
  • Liebste Feinde. Wie Volk und Führung in der DDR die westdeutschen Regierungschefs sahen
  • Interview. Altkanzler Gerhard Schröder über sein Verhältnis zur Macht, zur SPD – und zu Wladimir Putin
  • Familienbande. Herkunft und Familie prägen die Politik der Kanzler
  • Was bleibt von Angela Merkel? Politiker, Wissenschaftler und Künstler ziehen Bilanz: Zehn Standpunkte – von Claudia Roth bis Dieter Nuhr

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