Wahlloses Morden
Die Welt hält den Atem an. Es ist einer dieser Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Jeder erinnert sich später, was er in diesem Augenblick getan hat. Ich saß im Auto, ausgerechnet auf dem Weg zum Flughafen, als die Meldung im Radio kam: »World Trade Center brennt nach Aufprall von Flugzeug.« Ich traute meinen Ohren nicht. Ungläubigkeit lag auch in der Stimme von Claus Kleber, der damals für die ARD live kommentierte. Selbst als beide Türme getroffen waren und US-Präsident Bush von einem terroristischen Angriff gesprochen hatte, schloss Kleber ein Unglück nicht aus. Schlimme Unglücke, die kannte man, aber derart brutalen Terror?
Die Anschläge vom 11. September 2001 waren präzedenzlos, mit ihnen erreichte der Terrorismus eine neue, ungeheuerliche Dimension. Ältere Terrorgruppen wie die PLO, die IRA oder die RAF waren vergleichsweise kalkulierbar geblieben, ihre Taten richteten sich gegen fest umrissene Opfergruppen. Die frommen Fanatiker von Al-Kaida dagegen mordeten wahllos. Sie wollten so viele Menschen wie möglich töten, um ihren grenzenlosen Feind, den verhassten »Westen«, ins Mark zu treffen. Auch nach 20 Jahren haben die Bilder von den einstürzenden Wolkenkratzern wenig von ihrem Schrecken verloren. Und doch zeigen sie nur ein düsteres Kapitel unter vielen. Unser Heft erzählt die Geschichte des modernen Terrorismus von seinen Ursprüngen an, von den Sozialrevolutionären des 19. Jahrhunderts bis zu den islamistischen Gotteskriegern unserer Tage. Es ist die Geschichte einer fortwährenden Radikalisierung, eines immer maßloseren Mordens, das an dem strahlend blauen Septembermorgen 2001 seinen Höhepunkt fand: Knapp 3000 Menschen starben; kein anderer Anschlag war so blutig wie dieser. Die Opferzahl erklärt aber nicht die Schockwelle, die 9/11 ausgelöst hat. Nüchtern betrachtet – den Vergleich zog unlängst USPräsident Joe Biden – hat ein einziger Tag auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie in den USA mehr Todesopfer gefordert als der 11. September.
Die Macht des Terrorismus liegt weniger in der tatsächlichen Gewalt als in der Angst, die er uns einjagt – und die ihn größer und gefährlicher erscheinen lässt, als er ist. Terrorismus ist ein Scheinriese, der von seinem Schrecken lebt. So war es auch nicht der Anschlag selbst, der die Welt veränderte und aus dem 11. September »9/11« machte, die Chiffre für eine Zeitenwende. Es war die Reaktion der USA, die bis heute nachwirkt, vor allem der Krieg gegen den Irak, der Chaos und neuen Terror hervorbrachte. Der Ausnahmezustand, der nach 9/11 ausgerufen wurde, ist die Regel geworden: Unlängst hat der Deutsche Bundestag die Anti-Terror-Gesetze, mit denen die Geheimdienste gestärkt und die Freiheitsrechte eingeschränkt wurden, nicht nur verlängert, sondern entfristet. In unserer Welt steckt mehr 9/11, als wir denken. Der angsteinflößende Scheinriese, der im 19. Jahrhundert erwachte – er schläft nicht wieder ein.
Themen im Heft:
- Niemals sicher. Nirgendwo: Terroristen setzen auf den Schockeffekt brutaler Gewalt. Doch wer ist überhaupt ein »Terrorist«?
- Orsinis Bombe: Das Attentat auf Napoleon III. 1858 ist die Geburtsstunde des Terrorismus
- Tiefschwarzer September: Durch Flugzeugentführungen bringt die PLO den Terror 1968 auf die Weltbühne
- Für den Ernstfall: Warum wir die GSG 9 immer noch brauchen. Ein Gespräch mit dem Historiker
- Die Gesetze des Dschungels: Auf 9/11 reagieren die USA mit Krieg und der Aushebelung des Völkerrechts
- Auftakt zum »Rassenkrieg«: Jahrelang kann der NSU morden, weil die Ermittler die Täter im Umfeld der Opfer suchen
- Armee der Finsternis: Die Allianz von Islamisten und Saddam-Anhängern wird zur Keimzelle des »Islamischen Staates«
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