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Die jüdische Tradition

Eine Handschrift aus dem 6.Jahrhundert hat in der Vatikanischen Bibliothek die Zeit überdauert. Sie erzählt vom römischen Kaiser Konstantin, von seinem Brief an die Kölner Ratsherren vom 11. Dezember 321 und einem Gesetz, das überall im Reich gültig ist: Auch Juden sollen nun öffentliche Ämter bekleiden. Es ist der älteste Hinweis auf die Existenz jüdischer Gemeinden nördlich der Alpen; der Beleg, dass Juden seit mindestens 1700 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschland leben. So weit ihre Spuren in die Vergangenheit reichen, so alt ist auch die Feindschaft gegen die Juden. In Reden zum Gedenkjahr wird gern die »wechselhafte gemeinsame Geschichte« der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung betont, aber das ist ein Euphemismus: Schon in der vorchristlichen Antike und erst recht im Mittelalter waren Juden Verdächtigungen, Schmähungen und Pogromen ausgesetzt. Der Hass, der Juden trifft, weil sie Juden sind, flammt all die Jahrhunderte hindurch auf, gefüttert durch das unausrottbare Verlangen nach Verschwörungsmythen, Teufelsbildern und Sündenbockmärchen. Dieses Heft erzählt beide Seiten der jüdisch-deutschen Geschichte. Es schildert die Vielfalt jüdischen Lebens von seinen Anfängen bis in unsere Zeit, von den frühen Wurzeln am römischen Rhein bis zur neuen Blüte jüdischer Gemeinden nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es ist eine Geschichte voller Aufbrüche, Errungenschaften und Erfolge – und eine Geschichte der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung. »Der Jude«, so pointierte der Philosoph Jean-Paul Sartre, »befindet sich in der Situation des Juden, weil er inmitten einer Gesellschaft lebt, die ihn als Juden betrachtet.« Selbst in den hellsten Zeiten der Aufklärung waren Juden ihrer Umwelt nie ganz geheuer: Die liberalen Vordenker der Emanzipation akzeptierten den Einzelnen, aber nicht das Judentum; sie diktierten Ideale der Läuterung, denen die Minderheit kaum gerecht werden konnte, solange sie jüdisch blieb. Unter rassistischen Vorzeichen kehrte sich diese Logik im 20. Jahrhundert auf fatale Weise um: Die Juden konnten noch so sehr »gute Deutsche« sein, sie blieben Juden – und damit dem Tod geweiht. Es gehört zu den Wundern deutscher Geschichte, dass sich nach dem Holocaust wieder Juden im Land der Täter niederließen; dass in diesem Sommer nach hundert Jahren ein Rabbiner ins deutsche Militär zurückgekehrt ist. Aber nicht immer sind Synagogentüren so schussfest wie die in Halle. Der Anschlag vom 9. Oktober 2019 hat ins Bewusstsein gerufen, dass die Dämonen der Vergangenheit noch unter uns sind, dass jüdisches Leben immer noch bedroht ist. Seit einigen Jahren steigt die Zahl antisemitischer Straftaten wieder spürbar an. Es ist ein Anliegen dieses Heftes, auf die wichtigste Lehre hinzuweisen, die sich aus der langen gemeinsamen Geschichte ziehen lässt: Wehret den Anfängen.

 

Themen im Heft:

  • Glanz und Leid. Bilder aus dem jüdischen Deutschland
  • Das Geheimnis der Latrine. Die Archäologin Tanja Potthof über die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Köln
  • Davids Schild. Zur Geschichte eines Sterns
  • Der deutsche Hass. Warum wendet sich die Nationalbewegung nach 1815 gegen die Juden?
  • Bürgerlicher Wahn. Im Kaiserreich wird der Antisemitismus zur politischen Waffe
  • Blühende Felder für Zion. Otto Warburg begrünt Palästina
  • Allein unter Antifaschisten. Die Rolle der Juden in der DDR

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