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Dämmerung der Moderne

Goldene Zwanziger? Kein anderes Jahrzehnt wird so hingebungsvoll verkitscht und verklärt. Was ist schon golden an einer Zeit, die schwer am Erbe des Weltkrieges trägt, während sich der nächste Höllensturz schon ankündigt? Ganze sechs Jahre können die Deutschen durchatmen zwischen den Verwerfungen der Inflation 1923 und der ruinösen Wirtschaftskrise 1929, die Hitler den Weg an die Macht bahnt. Eine Verschnaufpause, ein kurzes Glück. Vielleicht erstrahlt es gerade deshalb so hell. Ja, die Zwanziger waren tatsächlich eine Glanzzeit – gemessen an dem, was die deutsche Geschichte im frühen 20. Jahrhundert sonst zu bieten hat.

Als habe es die Schrecken des Krieges und die Prüderie des Kaiserreichs nie gegeben, erwachte in den Zwanzigern ein überschwängliches Lebensgefühl, eine unstillbare Sehnsucht nach Tanz und Tempo, Rausch und Vergnügen. Die Welt schien sich schneller zu drehen, die Großstadt greller zu leuchten, das Leben leichter und lustvoller zu sein. Und kam der nächste Morgen doch, waren die Möglichkeiten immer noch unbegrenzt, der neuen Welt schöpferisch Ausdruck zu verleihen: »Die Künste blühten wie eine Wiese vor dem Schnitt«, beschreibt der Dramatiker Carl Zuckmayer den Aufbruch der Musiker, Maler, Schriftsteller, Regisseure und Architekten. Von dieser Weimarer Erfolgsgeschichte erzählt unser Heft: Die Zwanziger waren so reich an neuen Ideen, an Experimenten und Tabubrüchen, als wollten sie ein ganzes Jahrhundert kultureller Entwicklung aufholen.

Diese »goldene« Welt – dem Leben der meisten blieb sie entrückt. Abseits des Amüsierbetriebs herrschten oft Arbeitslosigkeit und bittere Armut; und zwischen Großstadtglitzer und Provinzalltag klafften nicht nur einige Kilometer. Vor allem vom Land ertönte das reaktionäre Echo: Der neue Lebensstil galt vielen als dekadent und unpatriotisch. So blieben Weimars beste Jahre eine zerrissene Zeit, tief gespalten und voller Widersprüche. Ekstase und Elend, Vergnügen und Verbrechen, avantgardistisch und ewiggestrig: Nur in solchen Gegensätzen gehen die Zwanziger auf.

Dieses Heftes will die Widersprüche nicht glätten, sondern zum Vorschein bringen: Die Beiträge entfalten ein breites Panorama – vom rauschenden Nachtleben bis zur geheimen Aufrüstung der Reichswehr, von den Gehversuchen der jungen Demokratie bis in die Abgründe völkischen Denkens. Die Autoren beschreiben eine Zeit der Extreme, die unserer Gegenwart in mancher Hinsicht verblüffend ähnlich ist: Parteiendemokratie und Parlamentarismus, Massenunterhaltung und Massenmedien, Eventkultur und urban lifestyle feierten vor hundert Jahren ihren Durchbruch. Die Morgendämmerung der Moderne, der Übergang in den Postwilhelminismus, wirbelte die Republik durcheinander, spaltete und entfremdete. Am Weimarer Beispiel lässt sich erkennen, wie eine Gesellschaft auf radikale Umbrüche reagiert, was sie verkraftet – und was nicht. Die Zwanziger zeigen uns, wie eng Tanzlust und Totentanz beieinanderliegen.

 

Themen im Heft:

  • Tanzlust, Erotik und Verbrechen – Berlin ist die Stadt, die niemals schläft
  • Der Antisemitismus wuchert, vor allem Ostjuden werden zum Feindbild
  • Träume aus Technik und Tempo: Automobile faszinieren die Zeitgenossen
  • Kino und Rundfunk läuten das Zeitalter der Massenmedien ein
  • Das Bauhaus denkt funktional: Wohnmaschinen sollen die soziale Not lindern
  • Gustav Stresemann betreibt Großmachtpolitik mit freundlichem Antlitz

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