Bedrohte Freiheit
Noch nie konnten so viele Menschen ihre Meinung öffentlich äußern wie heute im Zeitalter der sozialen Medien, noch nie war die Freiheit so grenzenlos. Trotzdem wächst das Gefühl, bei bestimmten Themen nicht frei sprechen zu können – weil der »Mainstream« zu mächtig, die Kritik zu hasserfüllt ist. Mehr als 150 überwiegend amerikanische Intellektuelle beklagen im Juli 2020 eine »Atmosphäre von Zensur« in den Debatten – mit »schweren Vergeltungsmaßnahmen« für diejenigen, die sich »vermeintliche sprachliche oder gedankliche Entgleisungen« leisten. Neu ist daran, dass der Liberalismus nicht nur von rechts unter Druck gerät; auch linke Protestbewegungen erheben ihre Moral zum Dogma. Und wie frei ist die Meinung, wenn es Internetriesen wie Twitter sind, die entscheiden, welcher Lautsprecher vom Netz genommen wird?
Unser Heft zeigt, dass die Meinungsfreiheit in ihrer langen Geschichte stets bedroht und umkämpft war – auch dort, wo sie als Grundrecht geschützt wurde. Verfassungsgarantien erzeugen noch keine Toleranz. In den USA musste die freie Rede immer wieder vor Gericht erstritten werden. Das Deutsche Kaiserreich versprach die Freiheit der Presse, aber »Majestätsbeleidigung« wurde hart bestraft. Selbst die DDR gestattete offiziell die freie Meinung – sofern sie der Arbeiter-und-Bauern-Ideologie entsprach. Es sind nicht nur autoritäre Regime, die keinen Widerspruch ertragen. Auch aus Freiheitsrebellen, das lehrt die Französische Revolution, können Zuchtmeister der korrekten Gesinnung werden. Oft sind es gar nicht die Regierungen, die Widerspenstiges im Zaum halten: Gesellschaften im Umbruch zensieren sich selbst; im Kampf um Deutungshoheit wird die Gegenrede zum Skandal erklärt – oder die Demokratie als »Meinungsdiktatur« geschmäht.
Was die Beiträge in diesem Heft über alle Epochen hinweg vereint, ist die Erkenntnis, wie mächtig die Zensur ist – und wie ohnmächtig zugleich. Im Nationalsozialismus sollte die Meinungskontrolle allumfassend sein und stieß gerade deshalb an Grenzen. Letztlich hat jeder Überwachungsstaat eine Tendenz zur Selbstzerstörung, denn oft macht erst die Zensur das Zensierte attraktiv. So war es für viele Schriftsteller höchst ehrenvoll, auf dem Verbotsindex der katholischen Kirche zu stehen. Und heute? »Das wird man doch noch sagen dürfen«, posaunen die einen, so als gäbe es den Zensurstaat wirklich. »Das darf man so nicht sagen«, diktieren die anderen, als könnten Sprechverbote das Unrecht dieser Welt heilen. Wir werden beides aushalten. Bedroht wird die Meinungsfreiheit durch etwas anderes. In Bedrängnis gerät ihr Fundament: der Konsens, was als Fakt gilt und was nicht. Problematisch ist nicht die Armut an Meinungen, sondern die Vielfalt an sogenannten Wahrheiten, die jede Debattenkultur zersetzt. Wer sich auf die freie Rede beruft, um sie durch Lügen zu untergraben, steht nicht unter Schutz. Eine wehrhafte Demokratie muss mit dem Missverständnis aufräumen, dass die Meinungsfreiheit grenzenlos ist. Das war sie nie.
Themen im Heft:
- Bilderverbot im Islam? Über die Wurzeln des Streits um die Mohammed-Karikaturen
- Toleranz gegenüber den Feinden: In den USA gilt seit 1791 die Meinungsfreiheit. Umkämpft ist sie bis heute
- Die unperfekte Meinungsdiktatur: Selbst der NS-Staat scheitert daran, alles zu steuern und zu zensieren
- Die ewige Lust am Verbotenen: Seit Menschengedenken sollen mächtige Tabus die Sexualität zügeln
- Die Unmündigkeit des Meinens: Seit der Antike fragen die Philosophen: Was ist Wahrheit – und was Meinung?
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