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Als die Alliierten im Frühjahr 1945 die deutschen Konzentrationslager befreien, lernt die Menschheit ein neues Wort für Hölle: Überall stoßen die Soldaten auf Leichen, verstreut umherliegend oder aufeinandergeschichtet wie Stapelholz. Nichts habe ihn so erschüttert wie der Anblick der nackten toten Körper, erinnert sich US-General Dwight D. Eisenhower später. Die Verbrechen der Nationalsozialisten waren so monströs, so menschenverachtend, dass sie nach einer Antwort verlangten, die ihrerseits grenzenlos war: Ein Weltgericht sollte den Zivilisationsbruch sühnen; nicht die Rache der Sieger, sondern das Recht der zivilisierten Völker.

Der Nürnberger Prozess wurde zur Geburtsstunde des humanitären Völkerrechts. Auch wenn diesem größten Strafverfahren aller Zeiten bis heute der Vorwurf der »Siegerjustiz« anhaftet, weil es sich eigene Regeln schuf – es war revolutionär, was im Herbst 1945 zur Anklage kam. Erstmals erklärte ein Tribunal nicht einzelne Taten, sondern ein mörderisches Regime wie das der Nationalsozialisten zur Strafsache. Erstmals richtete es die Mächtigen an der Spitze einer Regierung, auch wenn diese nach geltenden Gesetzen gehandelt hatten. Bis dahin schützte das Völkerrecht die Souveränität der Staaten, nun wandelte es sich zum Menschenrecht, das vor Verbrechen im Namen des Staates bewahren sollte. Und zum ersten Mal wurde der Angriffskrieg zu einem solchen Verbrechen erklärt. In Nürnberg sollte die Macht des Bösen ein für alle Mal gebrochen und das Fundament einer friedlichen Weltordnung gelegt werden.

Unser Heft blickt nach 75 Jahren zurück auf diesen beherzten Aufbruch, aber auch auf die Jahrzehnte danach, die Verfolgung der NS-Verbrechen durch deutsche Gerichte, die lange eine Geschichte der Verdrängung, Verharmlosung und Vertuschung blieb. Viele schwer belastete NS-Täter nahmen nicht auf der Anklagebank Platz, sondern in den Karrieresesseln der jungen Bundesrepublik. Was ist geblieben von Nürnberg? An den hochfliegenden Erwartungen, das erwachte Weltgewissen werde Krieg und Völkermord verhüten, konnte der Neuanfang nur scheitern. Erst als im Jahr 2002 der serbische Menschenschinder Slobodan Milošević vor ein internationales Gericht gestellt wurde, schien der Geist von Nürnberg wieder lebendig. Doch das globale Menschenrecht entwickelte sich nie zum Goldstandard der Politik. Am Ende unseres Heftes zieht Carla Del Ponte, die ehemalige Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals, eine ernüchternde Bilanz. Selbst die Vereinigten Staaten, einst Vorkämpfer der Weltgerechtigkeit, betrachten das Völkerstrafrecht inzwischen als Schönwetterregel mit beschränkter Haftung – so verbindlich wie die Fensterreden, die kürzlich zum 75. Jahrestag der UN gehalten wurden. Eines hat sich seit 1945 eben nicht verändert: Gerechtigkeit bleibt ein leeres Wort, wenn keine Macht sie stützt.

 

Themen im Heft:

  • Zeitenwender: Der Neubeginn 1945 in Bildern
  • Anklage Massenmord: Die 24 Hauptkriegsverbrecher und ihre Urlteile 
  • Die Wegducker: Im Kreuzverhör offenbart Reichsbankchef Walther Funk erstaunliche Wissenslücken
  • Das Lager ist die Tat: Der Demjanjuk-Prozess 2009 schreibt Rechtsgeschichte

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