- Artikel-Nr.: 44637
Gefühlte Kriegswende
Stalingrad war nicht die alles entscheidende Schlacht. Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg schon ein Jahr zuvor verloren, als im Herbst 1941 der Feldzug gegen die Sowjetunion scheiterte; seitdem lief die Zeit gegen die Achsenmächte. Stalingrad war auch nicht die blutigste und nicht die folgenschwerste Niederlage der Wehrmacht: Noch mehr deutsche Soldaten fanden den Tod, als im Sommer 1944 die Heeresgruppe Mitte zusammenbrach und die gesamte Ostfront aufgerollt wurde. Und dennoch: Erinnern wir uns an den Zweiten Weltkrieg, denken wir zuerst an Stalingrad. Keine Schlacht ist bekannter und berüchtigter als diese.
Tatsächlich hatte Hitlers Imperium Ende 1942 seine maximale Ausdehnung erreicht. Seit Stalingrad war die Wehrmacht fast nur noch auf dem Rückzug; deshalb wurde und wird die Niederlage oft als Kriegswende angesehen. Zudem gilt Stalingrad als Inbegriff des Schreckens, weil die Schlacht über Jahrzehnte als klassische Tragödie erzählt wurde, als Nibelungen-Drama in Eis und Schnee: eine verratene Armee, Kälte und Hunger ausgeliefert, ohne Aussicht auf Rettung. Das jedenfalls ist die deutsche Lesart, die dazu neigt, die Eroberer zu Opfern ihres eigenen Krieges zu erklären. Wer denkt bei Stalingrad schon an die Verbrechen auf dem Weg an die Wolga? Und wer kennt die Verluste der Roten Armee? Auch aus sowjetischer Sicht lieferte die Schlacht Stoff für Dramen: Die Vaterlandsverteidiger durchlebten ihre dunkelsten Stunden, bevor sie über das Böse triumphierten. In ihren Heldengeschichten trafen sich Sieger und Besiegte. Unser Heft will die Mythen entzaubern und die Geschichte der Schlacht aus der Perspektive der Angreifer und der Verteidiger erzählen. Die Beiträge im ersten Teil schildern den Krieg an der Ostfront vom Beginn der deutschen Sommeroffensive 1942 an, während der Blick im zweiten Teil auf der Erinnerungsgeschichte ruht, auf dem geteilten Gedenken in Ost und West.
Stalingrad war nie eine Schlacht, die still und einvernehmlich in die Geschichte eingegangen ist. Doch heute, zum 80. Jahrestag, ist die Erinnerung umkämpfter denn je. Im Donbass, wo einst die deutsche Sommeroffensive begann, tobt Russlands Krieg gegen die Ukraine. Putin nutzt Stalingrad als Bühne, um eine exklusiv russische Siegesgeschichte zu erzählen, die wie einst zum »Vaterländischen Krieg« gegen die »Faschisten« mobilisieren soll. Dabei bleibt unerwähnt, dass die USA schon damals wichtigster Waffenlieferant waren – für die Rote Armee. Und es passt nicht ins Bild, dass viele Verteidiger Stalingrads Ukrainer waren. Putins Propaganda lässt sich nur entlarven, wenn wir die wahre Geschichte kennen. Deshalb ist es heute, nach 80 Jahren, vielleicht wichtiger denn je, über Stalingrad zu reden.
Frank Werner
Chefredakteur
Themen im Heft:
- Das Auge des Krieges. Die Bilder der sowjetischen Fotografin Natalja Bode zeigen den Schrecken der Schlacht
- Hitlers Nullpunkt: Stalingrad mahnte zur Versöhnung – bis Putin davon nichts mehr wissen wollte.
- »Ein Ringen der Giganten«. Im Sommer 1942 stößt die Wehrmacht bis an die Wolga und in den Kaukasus vor.
- Nur tote Helden: Wer in Gefangenschaft gerät, gilt als verschollen. Bis ein Brief diese Lüge entlarvt.
- »Der Tod war überall«. Stalingrad und die Verbrechen der 6. Armee: Der Militärhistoriker Sönke Neitzel im Interview
- Geteiltes Gedenken: Im Westen erinnert man sich an das Leid der Soldaten, in der DDR an deren Läuterung.
- »Wir gegen die ganze Welt«. Wie Putin die Schlacht für seine Kriegspropaganda gegen die Ukraine nutzt
- »Eine europäische Völkerschlacht«. Die Osteuropa-Historikerin Katja Makhotina und der Russland-Historiker Jochen Hellbeck über das schwierige Erinnern in Zeiten des Krieges
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